Vortrag von Franz Schultheis am Hamburger Institut für Sozialforschung / Hinweis auf Vortragsreihe

Am vergangenen Mittwoch, 28.01.2009 war der Soziologe Franz Schultheis (St. Gallen) am Hamburger Institut für Sozialforschung zu Gast. Anlass war die derzeitige Vortragsreihe zum Themenkomplex Prekarität/ Flexibilität. Sein Vortrag „Flexibilität - Prekarität: Zwei Gesichter der Unternehmensmodernisierung“ kennzeichnete zunächst den aus den französischen Sozialwissenschaften der 1980er Jahre übernommenen Begriff in die deutsche Sozialwissenschaft in den späten 1990er Jahren. Mit dem Konzept lassen sich mehrere Ebenen von Prekarisierungsprozessen kennzeichnen: die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Prekarisierung der Lebensbedingungen, Abwertung von schulischem Kapital (z. B. Inflation von Bildungstiteln) und weitere, wie z. B. der Verlust kollektiver Identitäten, wie dem „stolzen Arbeiter“ – es handelt sich also einerseits um objektive Tatbestände, aber auch Ensembles inkorporisierter und „naturalisierter“ prekärer Existenzbedingungen (Habitus).
Das Prekarität nicht „einfach so“ entsteht, sondern es sich um eine „systematisch gesellschaftlich hervorgebrachte Lage“ handelt, in der sich „der neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello) zeige, führte Schultheis im Folgenden am Beispiel einer schweizerischen Großbank aus. In einem Umstrukturierungsprozess in den 1990er Jahren, der maßgeblich von der Unternehmensberatung McKinsey durchgeführt wurde, wurden in dem Traditionsunternehmen (das keine wirtschaftlichen Probleme hatte und angab, bis dahin noch nie eine Entlassung durchgeführt zu haben) 4.400 Mitarbeiter entlassen, nachdem alle Angestellten von dem Beratungsunternehmen einer Evaluierung unterzogen worden waren –es handelte sich demnach um die Mitarbeiter mit der geringsten „employability“. Bei der statistischen Auswertung nach bestimmten an Pierre Bourdieu angelehnten Kriterien fand das Forscherteam heraus, dass sich in der Gruppe der 4.400 „leaver“ besonders viele über 55-Jährige, Fauen, Teilzeitbeschäftigte, Menschen mit Handicap, Beschäftigte mit Kindern im schulpflichtigen Alter und Mitarbeiter ohne Abitur befanden.
Wo liegen die Ursachen hierfür? Mit Boltanski und Chiapello gesprochen, ist der Kapitalismus reflexiv geworden und hat seine Kritik inkorporiert: Die „Künstlerkritik“, wonach der Mensch selber nach Autonomie streben solle, anstatt in Hierarchien Aufgaben auszuführen, wurde aufgenommen und gegen die Arbeiter verwendet. Diese Kritik am Kapitalismus ließ jedoch außer Acht, dass nur diejenigen von der Subjektivierung und Flexibilisierung profitieren können, die (über) bestimmte Kapitalsorten besitzen (verfügen)– die Eliten. Für die unteren Sozialschichten bedeuten diese Prozesse eine Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen.
Im Anschluss an den Vortrag entspann sich eine lebhafte Diskussion, in der auch Fragen zur zunehmenden Technizität der Wirtschaft angesprochen wurden. Die Rolle der Technik, die hier noch als „Blackbox“ schemenhaft bleibt, empirisch zu konturieren, ist eine der Aufgaben, mit der sich die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Technikforschung in die Untersuchung dieser Veränderungen einbringt.
Weitere Vorträge zum Thema im Februar und März.

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