Zwei Lesehinweise: Schmidt, Jan und Pinch, Trevor

Jan Schmidt hat in seinem weblog gerade einige Gedanken aus seinem Buch Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0 weitergedacht und dies in einem Vortrag und einem blogpost (inkl. Folien des Vortrages) veröffentlicht: Kapitalisierung sozialer Beziehungen.
Sehr interessant, mir persönlich hat besonders der Vergleich auf Folie 7 mit "holländischen Wohnzimmern" gefallen.

Aber beim Lesen ist mir eingefallen, dass ich hier schon seit längerem auf einen Artikel hinweisen wollte: Erving Goffman als Techniksoziologe.
Autor ist Trevor Pinch, erschienen ist der Artikel in Technology and Culture. Pinch schlägt vor: to combine the attention to technological artifacts, which is the strength of approaches such as actor network theory and social construction of technology, with more traditional sociological approaches like Goffman’s, which attend to the interaction order and the meanings which materiality and technology facilitate.
Auch wenn sich Goffman nicht explizit zu Technik geäussert hat, so ist Pinch doch der Meinung, dass sie unsichtbar bzw. versteckt in Goffmans Schriften steckt: The Invisible Technologies of Goffman’s Sociology
StupidWhiteMan - 20. Jun, 14:02

schöner Ansatz, fehlende Ausarbeitung - Kombination mit Schmidt?

Der Text von Pinch ist tatsächlich der einzige mir bekannte Ansatz, Goffman aus techniksoziologischer Perspektive fruchtbar zu machen.

M.E. gibt es jedoch mehrere Mankos:

1. Pinch's Schlussfolgerung aus Goffmans Re-Lektüre, Technologie spiele grundsätzlich (wenn zugegen) eine mediatisierende Rolle in Interaktionssituationen bzw. gestalte die Interaktionsordnung mit, ist schön und gut. Pinch gibt jedoch keine Hinweise darauf, welcher Art nun die ermöglichenden bzw. restringierenden Effekte von Technologie (Sachtechnik) ganz konkret sind / sein können.
Er tat dies auch nicht am vergangenen Montag (18.06.2012) im Wissenschaftszentrum Berlin, wo er seinen nun schon 2 Jahre alten Text mehr oder minder vorlas, ohne groß darüber hinaus zu gehen.

Welche Rolle spielt die Materialität von Technologie? Wie definiere ich diese überhaupt bei Computern? Hier gibt es eine Hardware- und eine Software-Ebene - und beide sind nicht einmal manifest! (D.h. viele Softwarelösungen werden irgendwann zu Hardwarelösungen, z.B. Audio-/Video-Kompression...)

Ich beklage demnach die mangelnde Konkretisierung der Frage nach der Gegenständlichkeit von Technik.

2. Goffman beschäftigte sch ganz bewusst mit der Mikroebene menschlicher Interaktionen. Er verlässt dese Ebene kaum, höchstens mit seinem Rahmenkonzept, das sich einerseits strukturdeterministisch liest (Rahmen sind immer schon vorhanden...), dann aber doch wieder an strukturationstheoretische/praxistheoretische Ansätze erinnert (Rahmen müssen durch Bezugnahme bestätigt werden, können verschwinden...).
Wenn aber also wie Pinch, Goffman für eine Analyse von Internetkommunikation nutzbar machen will, brauche ich doch Anschlussmöglichkeiten an höhere Ebenen!Wie werden Interaktionen durch Technik UND durch soziale Strukturen in verschiedenen Kontexten (bspw. ges. Funktionsbereiche, Organisationen etc.) beeinflusst?

3. Es gibt keine systematische Bearbeitung Goffmanscher Termini für eine Anwendung auf computervermittelte Komunikation.
Pinch nimmt die Kopräsenz aufs Korn, Knorr-Cetina versucht sich an der Sozialen Situation, Joachim Höflich hat schon vor zehn Jahren den Rahmenbegriff erweitert, studentische Arbeiten nehmen mal hier, mal da einen Begriff näher unter die Lupe etc.
Klar, Goffman selbst hat alles andere als ein hochgradig konsistentes/konsequentes Begriffsgebäude gebaut. Wenn man aber Goffman für die hier angesprochenen Zwecke nutzen möchte, sollte man mal alle zentralen Begriffe durchexerzieren (Soziale Situation, Kopräsenz, Interaktion, Zusammenkunft, Rahmen ....)

4. Goffman wurde m.E. oft fehlinterpretiert! Sprich: Was Pinch macht ist toll - aber absolut überfällig! Goffman widmet sich zwar der face2Face-Interaktion -sagt jedoch nirgends - wie viele oft sagen - nur f2f sei Interaktion möglich! Es gibt Textpassagen, wo er klarstellt, f2f sei eben die "wirkliche" Interaktion - nichtsdestotrotz könne beim Briefeschreiben oder Telefonieren auch von Interaktion, wenn auch von "schwächerer" gesprochen werden. Also: Einfach ma lesen, den Burschen! (Höflich gibt glaube ich auch Beispiele hierfür...)

Genug gemeckert.

Mein Plädoyer:
Warum nicht das Konzept von Jan Schmidt etwas näher an Goffman rücken bzw. den praxistheoretischen Ansatz an Goffmans Mikroanalysen knüpfen?
Die Ebene des "Code" bei Schmidt lässt sich doch ganz wunderbar an Pinch binden. Und an Höflich, der von Computerrahmen schreibt. Man hätte damit also m.E. viel gewonnen.

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