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Tagungsbericht: Ernstfall Computerspiel – Virtuelles Handeln und soziales Spielfeld

Auf H-Soz-u-Kult, 19.8. 2005 ist ein Bericht über die von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden und der Bundeszentrale für politische Bildung
gemeinsam durchgeführten Tagung "Ernstfall Computerspiel" in Dresden (8.-10.07.2005) nachzlesen (von: Florian Sprenger, Bochum/Weimar und Sebastian Vehlken, Graduiertenkolleg Mediale Historiographien, Weimar):

"Das erst seit wenigen Jahren wissenschaftlich diskutierte Neue Medium Computerspiel scheint mehr denn je Projektionsfläche für die Ängste, aber auch die Hoffnungen einer zunehmend ludischen Gesellschaft zu sein. Je virtueller die Welten, desto lauter werden auch die Stimmen, die nach der Bedeutung von ScreenshotComputerspielwelten für die Spielfelder der Gesellschaft fragen. Die interdisziplinäre Tagung Ernstfall Computerspiel vom 8. bis 10. Juli 2005 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden setzte derartigen eindimensionalen Betrachtungsweisen vielschichtige Perspektiven entgegen, die nicht zuletzt von selbst spielenden und nun ins Alter der Diskursproduktion gelangten Forschern aufgeworfen wurden. Veranstaltet unter der Leitung von Claus Pias (Medienwissenschaftler, Bochum) und Christian Holtorf (Stiftung
Deutsches Hygiene-Museum Dresden), in Zusammenarbeit mit der
Bundeszentrale für politische Bildung, und im Kontext der noch bis zum 31. Oktober 2005 laufenden Ausstellung "Spielen", situierte die Tagung Computer-Games im größeren Zusammenhang eines kulturtechnischen Play. Abseits der gängigen Thematiken eröffnete dies einen Spielraum für Diskussionen etwa um das spielerische Abtasten von Möglichkeiten in (gesellschaftlichen) Krisensituationen durch (Computer)spiele, oder gar um ihren Formen und Techniken vielleicht inhärente soziale Phantasien und Gesellschaftstheorien.

(...)

In der abschließenden Podiumsdiskussion kamen dann doch noch jene medienpädagogischen Implikationen zur Sprache, die die Tagung bis dahin zugunsten alternativer Perspektiven weitgehend (und wohltuend) ausgespart hatte. Einhellig gewarnt wurde vor einer Wirkungsdebatte, die in der Regel nicht einmal ihre eigene Wirkung reflektiere, und die noch bei jeder Medieninnovation zutage trete. Wie sich ein Ernstfall vermeiden ließe, wäre auch eine schlecht gestellte Frage, zumindest dann, wenn sie die medialen Bedingungen des Spiels und des Spielens übersähe und sich lediglich auf Medienwirkungsforschung einließe. Ulrike Pilarczyk gestand unumwunden eine gewisse "Ratlosigkeit" angesichts immer wieder thematisierter Fragen nach der Wirkung von Computerspielen ein, und empfahl ebenso wie Astrid Deuber-Mankowsky in erster Linie den Einsatz gesunden Menschenverstandes, indem durch Anschauen, Anhören und Selbstspielen eine individuelle Gefahrenabschätzung vorgenommen und mit Kindern gemeinsam über deren Computerspiele kommuniziert werde. Eva Horn wies auf den grundsätzlichen mimetischen Fehlschluss eines etwaigen Verhältnisses von Gewaltdarstellung und Gewalt hin: Blut auf dem Bildschirm ist kein Blut, sondern Information über Blut. Diese einigermaßen trivialen Handlungsempfehlungen sollten jedoch eher als Ergebnis einer gründlichen Beschäftigung mit dem Thema Computerspiel und den ihm inhärenten Komplexitäten gewertet werden. Nicht zuletzt ließe sich so den von Umberto Eco beschriebenen Positionen des Apokalyptikers und des Integrierten, des Medienverdammers und des Medienverehrers, eine kritische Handhabe entgegenstellen.
Auch wenn die Argumentationen rund um die Begriffe Spiel, Spiele und Computerspiele im Verlauf der Tagung nicht immer ganz trennscharf waren, das Computerspiel nicht immer genau fokussiert wurde, und man sich gelegentlich in je fachspezifischen Erörterungen um das Wesen des Spiels erging, muss der Veranstaltung eine hohe Brisanz und Relevanz attestiert werden. Diese schlugen sich nicht nur in einem breiten öffentlichen und medialen Interesse nieder, sondern auch in der Vielfarbigkeit und Kurzweiligkeit der Präsentationen, die ein differenziertes Licht auf Computerspiele zu werfen imstande waren.


Den ganzen Bericht auf H-Soz-u-Kult lesen

Die Online-Zeitschrift "Telepolis" veröffentlichte bereits am 12.7. 2005 unter der Überschrift "Spiel und Arbeit"einen Bericht über diese Tagung.
 

Süddeutsche Zeitung: Computerspiele: "Neue Medien - alte Vorwürfe"

Unter der Überschrift "Neue Medien - alte Vorwürfe - Analphabeten des Bilder-Blutes" beschreibt Bernd Graff in der Süddeutschen Zeitung (16.8. 2005) ausgehend von der Geschichte der Medienkritik (insbesondere Comics) anlässlich der Leipziger Games Convention die neuesten Diskursverhältnisse im Hinblick auf den Computerspiele-Markt:

"Vom Comic zum Computerspiel: Die Geschichte neuer Jugendmedien ist die Geschichte ihrer Anfeindungen. Die Argumente sind immer dieselben. Inzwischen gehen die Hersteller von Computerspielen in die Offensive.
(...)

Allerdings, und auch das kann man aus dem nachhaltigen Erfolg der Comics lernen, ist die Geschichte neuer Bild- und Kulturformen immer zugleich auch die Geschichte ihrer Anfeindungen. So etablierte sich von Mitte der vierziger Jahre an mit den Comics auch eine Kontroverse, die heute anmutet wie die Großmutter aller Schlachten um die Wirkung von Medien. Mit genau derselben Skepsis und genau denselben Argumenten, mit denen man heute den Video- und Computerspielen pauschal eine Jugend gefährdende Wirkung attestiert, verurteilte man damals die Sprechblasen-Geschichten. Auch damals lauteten die Vorwürfe: sinnloser Zeitvertreib, Anstiftung zur Gewalt, es ging um sittliche Verrohung, Abstumpfung und Verführung zu Promiskuität und Libertinage."


SupermanPieta
Bildunterschrift aus der Süddeutschen Zeitung:
"Pieta mal anders und Superhelden, die weinen - Die Anfeindungen gegen die Bilder der Jugendmedien sind auch zum Heulen, so alt sind sie."

Einer der einflussreichsten Comic-Kritiker in den Vereinigten Staaten damals war Frederic Wertham. Der Name des deutschstämmigen Psychiater ist untrennbar verbunden mit einem wahren Kreuzzug gegen die Comics. In zahlreichen Publikationen und Fernsehauftritten, vor allem in seinem 1954 erschienen Buch „Seduction of the Innocent“ („Verführung der Unschuldigen“), machte er die Comics für die Verderbtheit der Jugend verantwortlich. Für ihn war klar, dass Verbrechen, Masturbation und Vergewaltigung von der Lektüre der Strips herrühren. So legte er dar, dass viele jugendliche Straftäter Comicleser waren, jugendliche Selbstmörder hatten angeblich vor ihrer Tat in den funnies geblättert und, ja, sexuelle Ausschweifungen wuchsen mit dem Brustumfang der Protagonistinnen in den Strips.

Nun ist allerdings festzuhalten, dass Wertham auf eine gezeichnete Bilderwelt traf, die mitunter selbst mit größtem Wohlwollen geschmacksverirrt genannt werden muss. Berühmt ist der Dialog zwischen Senator Kefauver und Mr. Gaines, einem Comic-Verlagsvertreter, aus dem „Interim Report“ der Senatsanhörung zur Jugendkriminalität von 1955.

Senator Kefauver: „Auf dem Titel Ihrer Mai-Ausgabe sieht man einen Mann mit blutiger Axt, der einen abgetrennten Frauenkopf in der Hand hält. Halten Sie das für guten Geschmack?“

Mr. Gaines: „Ja, Sir! Halte ich – für den Titel eines Horror-Magazins. Richtig schlechter Geschmack wäre es, noch etwas mehr von dem Kopf zu zeigen, etwa, wie dann das Blut aus dem Hals läuft.“

Senator: „Aber man sieht doch, wie Blut aus dem Mund läuft.“

„Ja, Sir. Aber nur ein bisschen.“


Der Comic Code von 1954 versuchte schließlich die behaupteten Wirkungen von Massenmedien erneut in Recht zu gießen:

Werthams Feldzug hatte Konsequenzen: Im Oktober 1954 trat der „Comic Code“ der „Comic Magazine Association of America“ in Kraft, eine Art freiwillige Selbstkontrolle der Produzenten, dem sich die Comic-Verleger beugten – oder aber alsbald aus der Medienlandschaft verschwanden. So beanstandete man noch 1969 von 1100 vorgelegten Comic Books 309. Die restriktive Praxis bei weithin ungeklärten Kausalzusammenhängen veranlassten Wolfgang Fuchs und Reinhold C. Reitberger, Autoren des 1973 erschienenen Standardwerks „Comics. Anatomie eines Massenmediums“ zu folgendem Fazit: „Nach über drei Jahrzehnten andauernder Kontroversen ist nicht eindeutig bewiesen, ob Comics, Film und Fernsehen schädliche Einflüsse auf jugendliche Konsumenten haben. Ein Modell, das die Wirkung von Massenmedien greifbar macht, lässt weiterhin auf sich warten. Alle Wirkungen und Nicht-Wirkungen der Medien sind inzwischen wissenschaftlich belegt worden. Allerdings: Sie widersprechen einander und haben nur eine einzige definitive Aussage: Die jeweilige Wirkung der Comics (und der anderen Medien) ist von so vielen Determinanten abhängig, dass eine allgemeine Aussage und damit ein Pauschalurteil nicht möglich ist.“


Was bedeutet das für Computerspiele? Offensichtlich nichts. Populistische PolitikerInnen betreiben hier nicht so sehr Aufklärung, denn die Schärfung ihres eigenen Profils. So reihen sich auch die Bemühungen der wahrscheinlich nächsten demokratische US-Präsidentschaftskandidatin, Hillary Clinton, in die "Kakophonie der Erkenntnisse" ein:

"Die Medien haben sich geändert, das Misstrauen gegen sie nicht: In der letzten Woche behauptete die US-Senatorin Hillary Clinton, dass die Video-Spiele verantwortlich seien „für eine schleichende Epidemie der Medien-Desensibilisierung, die unseren Kindern die Unschuld raubt.“ Clinton und andere Politiker leiten aus dem aktuellen Sex-Skandal um das Spiel „Grand Theft Auto“ zum einen die Notwendigkeit ab, die Einstufungsverfahren von Computerspielen noch einmal gründlich zu prüfen – wogegen überhaupt nichts zu sagen ist. Zum anderen macht sich Clinton für eine 90 Millionen Dollar teure, grundsätzliche Erforschung der Medien-Wirkung der Spiele stark. Von diesem Projekt kann jetzt schon ebenso grundsätzlich gesagt werden, dass man am Ende irgendetwas herausgefunden, vor allem aber 90 Millionen Dollar ausgegeben haben wird."

Aber auch die Gegenkräfte formieren sich, wobei sie offensichtlich die Argumentation einfach umdrehen:

"Denn auch diese Studie wird sich einreihen in den disharmonischen Chor von Forschungsstimmen, von denen immer wenigstens eine mit wissenschaftlich fundierter Begründung belegt, warum das genaue Gegenteil der Fall ist. An dieser Kakophonie der Erkenntnisse hat sich auf dem Gebiet der Wirkungsforschung seit den Tagen der seligen Comic-Verachtung nichts geändert. Weswegen andererseits derzeit ein Autor, Steven Johnson, damit Furore macht, dass er in seinem Buch „Everything Bad Is Good For You“ das angeblich „Schlechte“ kurzerhand für „gut“ erklärt und darlegt, warum Computerspiele uns intelligenter machen. So stellt er fest, dass die Quote an Gewaltverbrechen in den USA ständig sinkt, während die Verkaufszahlen für Computerspiele steigen. In einem bislang unveröffentlichten Interview der Zeitschrift EA - Das Magazin spekuliert er: „Warten wir doch ab, was herauskommt, wenn die Spiele-Kids von heute, die von Kindesbeinen an mit komplexen interaktiven Medien umzugehen gelernt haben, an IQ-Tests teilnehmen!“ Tatsächlich, auch das sollte festgehalten werden, sind zwar siebzig Prozent aller amerikanischen Spieler unter vierzig Jahre alt, aber das Durchschnittsalter aller Spieler liegt bei etwas über dreißig. Es sind also definitiv keine Kids mehr, die da mehrheitlich spielen."

Und in Deutschland? - Computerspiele = "das wichtigste kulturelle Medium dieses Jahrhunderts"?

In Deutschland wird inzwischen mehr mit Computerspielen als mit Kino-Tickets verdient. Angesichts solcher Zahlen gehen die Spiele-Entwickler in die Offensive: Gerhard Florin, Europa-Chef des weltgrößten Spiele-Publishers Electronic Arts, nennt Computerspiele „das wichtigste kulturelle Medium dieses Jahrhunderts“ und prophezeit: „Wenn wir uns weigern, Computerspiele als legitime Kunst anzuerkennen, riskieren wir ein Jahrhundert der kulturellen Stille.“ Sein Deutschland-Vertreter Jens-Uwe Intat ergänzt: „Viele Eltern, die Computerspiele heute immer noch verurteilen, besitzen zu wenig Medien-Kompetenz. Es ist wie bei Analphabeten mit lesekundigen Kindern.“ Das sieht Stephan Brechtmann, Direktor der Home & Entertainment Division von Microsoft, genauso. Er behauptet: „Weder Konservative noch die diskursmächtigen 68er haben wirklich Erfahrung mit dem Virtuellen. Vieles in der stigmatisierenden Diskussion scheint daher fundamentalem Unverständnis geschuldet.“

Was denn diese Spielbedingungen sind, erläutert Christian Schmidt, Redakteur des Spiele-Fachblatts GameStar: „Die Wahrnehmung des Betrachters und des Spielers sind nicht identisch. Der Betrachter sieht einen Film. Der Spieler sieht Möglichkeiten. Tod ist in den Spielen immer nur ein Abstraktum. Wer in Mehrspielerpartien stirbt, ist in der nächsten Runde wieder da. Und jeder weiß das.“ René Korte, Gründer des ersten großen deutschen Computer-Spieler-Clans mTw und Vorstandmitglied des Deutschen Elektronic-Sport-Bundes (ESB) resümiert: „Die Gewalt in den Spielen ist sekundär. Gute Spieler schalten alles weg, was Rechenleistung kostet, die Darstellung von Blut zuerst.“ Thomas von Treichel, Deutschland-Sprecher der World Cyber Games, eine Art Olympiade des E-Sports, erklärt kurzerhand: „Unser Sport ist der kommende.“

In der nächsten Woche findet in Leipzig die „Games Convention“ statt, eine der weltweit wichtigsten Messen für Interaktives Entertainment. Im letzten Jahr kamen 105000 Besucher. In diesem Jahr werden es vermutlich noch mehr. Es werden keine Zombies sein, die beim Daddeln ihre Unschuld verloren haben. Es wird aber auch nicht die kulturelle Elite dieses Landes sein. Sondern ganz normale Menschen.


Ein interessanter wissenschaftlicher Beitrag hierzu findet sich im übrigen bei kommunikation@gesellschaft:
Michel Nachez /Patrick Schmoll: Gewalt und Geselligkeit in Online-Videospielen. In: kommunikation@gesellschaft 3 (2002). URL: http://www.uni-frankfurt.de/fb03/K.G/B5_2002_Nachez_Schmoll.PDF
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Deutungsmuster und Erzählstrategien bei der Bewältigung beruflicher Krisenerfahrungen In: Seifert, Manfred/Götz, Irene/Huber, Birgit (Hg.): Flexible Biographien. Horizonte und Brüche im Arbeitsleben der Gegenwart. Frankfurt u. a. 2007, S. 167-184.








Anika Keinz, Klaus Schönberger und Vera Wolff (Hrsg.)
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