Robert Misik: "Die blauen Bände"
Robert Misik liefert uns in einem Radiofeuilleton für den SWR anlässlich des 125. Todestages von Karl Marx (8.3. 2008) auf wunderbar eindringliche Art anhand der so genannten Blauen Bände, den Marx-Engels-Werken aus dem Ostberliner Dietz-Verlag, eine schöne Definition des Begriffs "Materielle Kultur". Zugleich bieten diese Zeilen en passant eine Form der autobiographischen Erinnerung, die sich wohltuend von diesen selbstgewissen 68er-Erinnerungen abhebt. Aber das können halt nur die 77er.
Einst, als ich noch sexuell aktiver war, hatte ich die Gewohnheit, bei neuen Bekanntschaften zunächst – das heißt, als drittes oder viertes – einen Blick auf das Bücherregal zu werfen. Das gab wenigstens einen groben Eindruck, an wen man denn jetzt wieder geraten war. Man sah sich die Bücherwand an, und sah, wer jemand ist – oder zumindest, wer jemand sein wollte. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang von einer doppelten Existenz von Büchern zu sprechen, im Sinne einer „materiellen Kultur“. Sie sind einerseits geistige Güter, führen andererseits auch eine materielle Existenz. Und bei manchen Büchern ist ihre bloße materielle, sichtbare Anwesenheit schon ein starkes Signal. Bei der Bibel etwa, beim Koran, aber eben auch bei den legendären „blauen Bänden“, den „Marx Engels Werken“, nach und nach herausgebracht vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Die wichtigste Hinterlassenschaft der DDR, einmal abgesehen vom grünen Pfeil.
In den siebziger und achtziger Jahren durften die 43 Bände in keiner Wohngemeinschaft fehlen, die auf sich hielt. Die waren so ein „so, da siehst du gleich, mit wem du es zu tun hast“-Signal. Ich beobachte übrigens heute noch sehr gerne, wie die blauen Bände in Wohnungen auf Wanderschaft gehen, bei etabliert gewordenen `68ern etwa. Bei einem guten Freund von mir sind sie mittlerweile an der höchsten Stelle der Bücherwand, fünf Meter über den Boden. Man weiß: Nie mehr wird hier jemand hoch klettern, Kopf und Kragen riskieren, um „Das Kapital“ zu lesen oder kurz in den „Pariser Manuskripten“ nachzuschlagen. Viele haben die Bände natürlich ganz abgeräumt, nachdem sie aus der Mode kamen und erst durch Bataille und Foucault, später dann durch Jamie Oliver ersetzt.
Marx hat man nicht einfach gelesen. Man hat Marx studiert. Das war es auch immer, was die „blauen Bände“ symbolisierten: dass man sich nicht einfach mit zwei, drei, sieben oder siebzehn Büchern von Marx begnügte. Es musste „der ganze Marx“ sein. Getragen war das von einem spezifischen Verhältnis zum Text, dem „Literalismus“, fast eine eigene Art von Religiosität. „Literalismus heißt“, schreibt der Essayist Michael Rutschky, „in gewissen heiligen Büchern – die Bibel, der Koran, die blauen Bände der MEW – ist unverrückbar die Wahrheit niedergelegt. Es kömmt nur darauf an, diese Bücher richtig zu lesen, aber dieses richtige Lesen stellt eine lebenslange und geradezu übermenschliche Aufgabe dar.“
Diese Liebe zum Text, diese Besessenheit mit Marx-Zitaten und –Passagen, diese „Stellenkunde“, hatte gelegentlich etwas leicht Überspanntes, war aber auch getragen von einer ungeheuren Leidenschaft für die Schrift, für die Theorie, die Abstraktion, die Begriffe, für das Welt-Verstehen und Welt-Verändern. Es war eine Leidenschaft, man glühte für etwas. Das Aufgeschriebene war von unerhörter Wichtigkeit. Im Westen konnten an einem Streit über die richtige Auslegung einer Marx-„Stelle“ ganze Freundschaften zerbrechen, im Osten hatte ein geschickt platziertes Marx-Zitat, über Entfremdung etwa, subversive Kraft. Es ist wohl kein Wunder, dass der russische Marx-Forscher David Rjasanow, der mit seinem Mitarbeiterstab in den zwanziger Jahren viele der Marx’-Handschriften entzifferte, in den Gulag wanderte und dort dem Stalinschen Terror zum Opfer fiel.
Ich, übrigens, konnte zu den „blauen Bänden“ nie eine besondere erotische Beziehung entwickeln. Sie bereiteten mir keine haptische Lust. Ich nahm sie vielleicht als Quelle für die Studien zur Hand, viel lieber aber griff ich zu den feinen sechsbändigen „Marx Engels Ausgewählten Werken“. Schön in Leinen gebunden, mit angenehm vergilbenden Papier. Die habe ich seit frühen Teenagertagen, 27 Jahre ist das jetzt her. Wie Schichten überlagern sich die verschieden färbigen Unterstreichungen und Anmerkungen und manchmal muss ich lachen, wenn ich sehe, was ich als 15- oder 16jähriger Wert gefunden habe, unterstrichen zu werden. Da, beispielsweise, Band Eins, Seite 231: „Veränderungen der Menschen nötig“, hat Marx geschrieben. Ich habe drei Rufzeichen daneben gesetzt.
Einst, als ich noch sexuell aktiver war, hatte ich die Gewohnheit, bei neuen Bekanntschaften zunächst – das heißt, als drittes oder viertes – einen Blick auf das Bücherregal zu werfen. Das gab wenigstens einen groben Eindruck, an wen man denn jetzt wieder geraten war. Man sah sich die Bücherwand an, und sah, wer jemand ist – oder zumindest, wer jemand sein wollte. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang von einer doppelten Existenz von Büchern zu sprechen, im Sinne einer „materiellen Kultur“. Sie sind einerseits geistige Güter, führen andererseits auch eine materielle Existenz. Und bei manchen Büchern ist ihre bloße materielle, sichtbare Anwesenheit schon ein starkes Signal. Bei der Bibel etwa, beim Koran, aber eben auch bei den legendären „blauen Bänden“, den „Marx Engels Werken“, nach und nach herausgebracht vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Die wichtigste Hinterlassenschaft der DDR, einmal abgesehen vom grünen Pfeil.
In den siebziger und achtziger Jahren durften die 43 Bände in keiner Wohngemeinschaft fehlen, die auf sich hielt. Die waren so ein „so, da siehst du gleich, mit wem du es zu tun hast“-Signal. Ich beobachte übrigens heute noch sehr gerne, wie die blauen Bände in Wohnungen auf Wanderschaft gehen, bei etabliert gewordenen `68ern etwa. Bei einem guten Freund von mir sind sie mittlerweile an der höchsten Stelle der Bücherwand, fünf Meter über den Boden. Man weiß: Nie mehr wird hier jemand hoch klettern, Kopf und Kragen riskieren, um „Das Kapital“ zu lesen oder kurz in den „Pariser Manuskripten“ nachzuschlagen. Viele haben die Bände natürlich ganz abgeräumt, nachdem sie aus der Mode kamen und erst durch Bataille und Foucault, später dann durch Jamie Oliver ersetzt.
Marx hat man nicht einfach gelesen. Man hat Marx studiert. Das war es auch immer, was die „blauen Bände“ symbolisierten: dass man sich nicht einfach mit zwei, drei, sieben oder siebzehn Büchern von Marx begnügte. Es musste „der ganze Marx“ sein. Getragen war das von einem spezifischen Verhältnis zum Text, dem „Literalismus“, fast eine eigene Art von Religiosität. „Literalismus heißt“, schreibt der Essayist Michael Rutschky, „in gewissen heiligen Büchern – die Bibel, der Koran, die blauen Bände der MEW – ist unverrückbar die Wahrheit niedergelegt. Es kömmt nur darauf an, diese Bücher richtig zu lesen, aber dieses richtige Lesen stellt eine lebenslange und geradezu übermenschliche Aufgabe dar.“
Diese Liebe zum Text, diese Besessenheit mit Marx-Zitaten und –Passagen, diese „Stellenkunde“, hatte gelegentlich etwas leicht Überspanntes, war aber auch getragen von einer ungeheuren Leidenschaft für die Schrift, für die Theorie, die Abstraktion, die Begriffe, für das Welt-Verstehen und Welt-Verändern. Es war eine Leidenschaft, man glühte für etwas. Das Aufgeschriebene war von unerhörter Wichtigkeit. Im Westen konnten an einem Streit über die richtige Auslegung einer Marx-„Stelle“ ganze Freundschaften zerbrechen, im Osten hatte ein geschickt platziertes Marx-Zitat, über Entfremdung etwa, subversive Kraft. Es ist wohl kein Wunder, dass der russische Marx-Forscher David Rjasanow, der mit seinem Mitarbeiterstab in den zwanziger Jahren viele der Marx’-Handschriften entzifferte, in den Gulag wanderte und dort dem Stalinschen Terror zum Opfer fiel.
Ich, übrigens, konnte zu den „blauen Bänden“ nie eine besondere erotische Beziehung entwickeln. Sie bereiteten mir keine haptische Lust. Ich nahm sie vielleicht als Quelle für die Studien zur Hand, viel lieber aber griff ich zu den feinen sechsbändigen „Marx Engels Ausgewählten Werken“. Schön in Leinen gebunden, mit angenehm vergilbenden Papier. Die habe ich seit frühen Teenagertagen, 27 Jahre ist das jetzt her. Wie Schichten überlagern sich die verschieden färbigen Unterstreichungen und Anmerkungen und manchmal muss ich lachen, wenn ich sehe, was ich als 15- oder 16jähriger Wert gefunden habe, unterstrichen zu werden. Da, beispielsweise, Band Eins, Seite 231: „Veränderungen der Menschen nötig“, hat Marx geschrieben. Ich habe drei Rufzeichen daneben gesetzt.
kschoenberger - 11. Mär, 09:42