Tagungsbericht: In-Vitro-Fertilisation as Global Form

Ethnographic Knowledge and the Transnationalization of Reproductive Technologies

Internationaler Workshop des Instituts für Europäische Ethnologie und des Sonderforschungsbereichs 640, "Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel", Teilprojekt C4 ("Verwandtschaftskulturen und Reproduktionstechnologien"), Humboldt-Universität zu Berlin
12.06.2008- 14.06.2008


Bericht von Sulamith Hamra und Michi Knecht, Humboldt-Universität zu Berlin
Email: sulamith.hamra[at]cms.hu-berlin.de, michi.knecht[at]rz.hu-berlin.de

Dreißig Jahre nach der Geburt des ersten "Retortenbabys aus dem Reagenzglas" in Manchester 1978 haben sich In-Vitro-Fertilisation (IVF) und andere Technologien "assistierender" Reproduktion weltweit und mit ungebrochen steigender Tendenz verbreitet. Wenn auch ihre Nutzung häufig auf Frauen, Paare und Familiennetzwerke beschränkt bleibt, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, so können Reproduktionstechnologien doch längst nicht mehr ausschließlich als Privileg ungewollt Kinderloser in westlichen Ländern gelten. Eingebettet in unterschiedliche biopolitische Konstellationen, lokale Geschlechter-, Verwandtschafts- und Sozialordnungen sowie ungleiche Ökonomien werden Reproduktions-Technologien gegenwärtig nicht nur in Nordamerika, Europa und Australien praktiziert und genutzt, sondern auch in vielen Ländern Südamerikas, Asiens und Afrikas. Aus der Fülle von Technologie-generierenden, -aneignenden und -regulierenden Praxen, die sich quer zu, durch und über regionale und nationale Grenzen hinweg realisieren, ist ein annähernd globales "techno-scape" hervorgegangen. Es handelt sich um eine multilokale Konfiguration, die transnationale Strukturen generiert und gleichzeitig lokale Praxen reproduktionsmedizinischer Nutzung immer wieder neu markiert und hervorbringt.

Seit 20 Jahren begleiten Sozial- und Kulturanthropologinnen und -anthropologen sowie Wissenschafts- und Technikforschende diese Entwicklungen mit lokalen oder multilokalen Untersuchungen zu den professionellen Arbeitswelten und kulturellen Implikationen von Reproduktionstechnologien. Erstmals jedoch brachte der internationale Workshop "IVF as global Form. Ethnographic Knowledge and the Transnationalization of Reproductive Technologies" die Autorinnen und Autoren dieser Studien zusammen, um nicht nur Unterschiede und Gemeinsamkeiten, sondern vor allem auch Linien und Verbindungen zwischen unterschiedlichen Lokalitäten sichtbar zu machen. Ziel der die Konferenz organisierenden Forschergruppe (Stefan Beck, Sulamith Hamra, Maren Klotz, Michi Knecht) war weniger ein Vergleich der Artikulationsformen von IVF in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen, noch eine Typologie ihrer Aneignungsformen. Es ging vielmehr um den Versuch, auf der Grundlage dichter ethnographischer Forschungen neue Einsichten in Reproduktionstechnologien als globale "Form" oder "assemblage" zu generieren. Damit sollten auch weitergehende Fragestellungen zu zwei im Feld der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie derzeit intensiv diskutierten Problemstellungen angestoßen werden: Nach welchen Mustern bzw. in welchen Dynamiken entwickeln sich transnationale Räume und Ordnungen? Und was für konzeptionelle, methodologische wie analytisch-theoretische Innovationsnotwendigkeiten ergeben sich aus der Verschiebung der ethnographischen Aufmerksamkeit von lokalisierten zu transnationalen oder gar "globalen" Praxen sowie ihren wechselseitigen Verflechtungen mit dem Lokalen?

In ihrem Eröffnungsvortrag "5 Million Miracle Babies Later. The Cultural Legacy of IVF" forderte SARAH FRANKLIN (BIOS-Centre, LSE, London) eine Neupositionierung von IVF in der Geschichtsschreibung menschlicher Reproduktion und in unserem Denken. Dreißig Jahre reproduktionstechnisch assistierter Zeugung hätten, so Franklin, neue Ambivalenzen zwischen Risiken und Obligationen zur Inanspruchnahme dieser Technologien institutionalisiert sowie die Wahrnehmung von und den Umgang mit menschlicher Reproduktion revolutioniert. Aber da IVF in einem sehr kurzen Zeitraum weitgehend normalisiert worden sei und sich vielerorts zu einer unspektakulären und allgegenwärtigen Technologie entwickelt habe, werde ihr Vermächtnis unterschätzt. Zwar seien die multiplen und komplexen Genealogien reproduktionstechnologisch assistierter Zeugung noch nicht ausreichend rekonstruiert; insbesondere die Frage, was es diesen Technologien erlaubt habe, aus dem Bereich der Tierzucht in die Humanmedizin einzuwandern, sei ungeklärt. Aber eine Re-Lektüre der bereits geschriebenen Wissenschaftsgeschichte biete genügend Material für eine Neuinterpretation. IVF stelle, so FRANKLIN, einen bedeutsamen Wendepunkt der somatischen Techniken und Ethiken in der Geschichte der Menschheit dar. Das „Zeitalter der Biologie“ habe keineswegs erst mit dem Human Genome Project und dem Klonschaf „Dolly“ begonnen. Anders als die ikonengleiche Metapher von der "helfenden Hand der Natur" suggeriere sei IVF, als Werkzeug und zugleich Modell, tatsächlich eine helfende Hand für die nächste Generation biotechnologischer Interventionsmöglichkeiten. Der durch IVF "hergestellte" Embryo, distinkt in der Normalität seiner Intervenierbarkeit, bereite zukünftige erweiterte Formen der Intervention in menschliches Leben vor. Heute verkörpere IVF nicht mehr die Substituierbarkeit menschlicher Reproduktion durch Technologie sondern de facto ihren Ersatz. Das Modell sei zum neuen Original geworden.


Am Freitagvormittag präsentierte MICHI KNECHT (Humboldt-Universität zu Berlin) in ihrer Einleitung das Tagungskonzept, das vorschlug, IVF als Modellfall biotechnologischer Transnationalisierung und Globalisierung zu befragen. Wichtige Unterpunkte dieser Fragestellung betreffen die Erprobung und Diskussion analytischer Konzepte wie "technological zone", "scape" und "global assemblage", die Analyse nationaler und transnationaler Stile der Gouvernementalität in der Regulierung von IVF und ihr Verhältnis zu den mobilen Dimensionen dieser Technologien sowie die Übergänge zwischen biopolitischen und bioökonomischen Konfigurationen. Weitere Schwerpunkte des Workshops sollten nach Wunsch und Plan der Veranstalter die sich ändernden Bedingungen ethnographischer Wissensproduktion in diesem Feld bilden sowie die Asymmetrien innerhalb und zwischen unterschiedlichen reproduktionstechnologischen Räumen. Überlegt werden müsse, in wiefern die Formation reproduktionstechnologischer Räume zur Neuinskription und gleichzeitig zur Delokalisierung der Dichotomie "the West versus the Rest" und der mit ihr verbundenen Zuschreibungen von "modern" und "rückständig" beitrage.


Konstellationen reproduktiver Gouvernementalität

Die Beiträge des ersten Workshoptages knüpften aspektreich an SARAH FRANKLINs Charakterisierung von IVF-Technologien als Generator neuer Verpflichtungen, Risiken und Ambivalenzen an. Sie rückten zudem das Konzept "reproduktiver Gouvernementalität" in den Mittelpunkt, das ELIZABETH ROBERTS in die Konferenz eingebracht hatte.

Im ersten Panel unter dem Motto “Localizing IVF: the Cultural Works of Encounters” diskutierte ROBERTS (University of Michigan) an Hand ethnographischen Materials aus Ecuador kulturelle, ökonomische, religiöse und politische Kontexte reproduktiver Technologien, die die spezifische Form ecuadorianisch-reproduktiver Gouvernementalität im Umgang mit IVF prägen. Involviert und von Bedeutung sind ein schlecht ausgestattetes öffentliches und ein staatlicherseits unterreguliertes, privates Gesundheitssystem, die Kirche, ein striktes Abtreibungsverbot und ausgeprägte soziale und ökonomische Hierarchien. Selbst arme Ecuadorianerinnen entwickelten Strategien, um private medizinische Leistungen in Anspruch nehmen zu können und die staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu umgehen. Viele der ärmeren Frauen, die sich in Fertilitäts-Kliniken behandeln ließen, seien durch vorhergegangene, schlecht ausgeführte illegale Abtreibungen steril geworden. ROBERTS zeigte, wie in der Nutzung von IVF-Technologien auch Subjektivitäten und Handlungsmacht, Kontrolle und Mangel an Kontrolle zwischen dem ecuadorianischen Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern verhandelt werden.
MICHAL NAHMAN (University of Western England) situierte IVF in Israel im Kontext eines pro-natalistischen biopolitischen Systems, in dem reproduktionsmedizinische Behandlungen großzügig durch die Solidargemeinschaft und den Staat finanziert werden und in dem die weltweit freizügigsten rechtlichen Regulierungsformen herrschen. Der rätselhafte Satz „Embryos sind unser Baby“, der auf der Außenmauer einer privaten israelischen IVF-Klinik zu lesen ist, diente als Leitmotiv ihres Vortrages. In dem sie nach Schnittflächen zwischen Wissenschaft und Nationalkultur fragte, konnte sie parallele Narrative und Motive, etwa im Diskurs über Alliah, das Recht der Heimkehr der Juden ins gelobte Land, und Eizellimporte aus Rumänien herausarbeiten. Sie machte Konvergenzen zwischen der Deutung privater und öffentlicher „Reproduktionskrisen“ deutlich. Im Rückgriff auf Benjamins Konzept der „Verkürzung der Zeit“ arbeitete sie heraus, wie die Entwicklungsschritte zwischen "Embryos" und "Babies " in den israelischen Diskursen unsichtbar gemacht werden. Der IVF-Embryo wird zu einem neoliberalen, zeitgenössisch-nationalen Hoffnungsträger.

Die Sozialanthropologin JEANETTE EDWARDS (Manchester University) betonte in ihrem Kommentar, dass gerade eine Perspektive auf Nutzungspraxen von Technologien, die auch Klasse, bevölkerungspolitische Zusammenhänge und die gesamte lokale Situation berücksichtigt, einen genuin ethnographischen Beitrag zur Diskussion globaler assemblages darstelle.

Im zweiten Panel unter dem Titel "National Styles of Governance / Local IVF Cultures" zeigte WILLEMIJN DE JONG (Institut für Ethnologie, Universität Zürich), wie eine spezifisch schweizerische Bioethik-Position zu IVF vor dem Hintergrund transnationaler Debatten konstruiert wird. Sie berichtete am Beispiel einer Podiumsdiskussion über einen lokalen Diskurs, der die Idee des "Kinder-Machens als Projekt " als etwas Anstößiges darstellt. Dem "Machbarkeitswahn" der Reproduktionstechnologien werde hier das Motiv vom "Kind als Geschenk" gegenüber gestellt – ein positiv konnotiertes Image. Im Verhältnis zwischen lokalem Diskurs und transnationalen Debatten markiert die besonders restriktive Handhabung von IVF und die zögerliche Zulassung vieler reproduktionstechnologischer Verfahren in der Schweiz das Land als besonders - und als besonders vorsichtig.

In ihrem Vortrag zum "Wissensmanagement" in Familien nach donogener Zeugung in Deutschland und Großbritannien ging MAREN KLOTZ (Humboldt-Universität zu Berlin) von der These aus, dass aktuell biologische Verwandtschaftsinformationen zum regulatorischen Problem geworden seien. Sie brachte das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter in Berlin, die ihre Tochter mit dem Samen eines anonymen Spenders aus den USA zeugte und durch internetbasierte Nachforschungen viel Wissen über den Genitor sammelt. Davon ausgehend entwickelte KLOTZ ein komplexes Bild der Zusammenhänge zwischen nationalen Regulativen, der Europäisierung der Gesetzgebung und den persönlichen, reflexiven Strategien der Akteure im Feld. Im Rückgriff auf Marilyn Stratherns und Janet Carstens Verständnis von Verwandtschaftswissen als "konstitutivem Wissen", das Beziehungen nicht nur formt, sondern tatsächlich produziert, machte sie deutlich, wie wichtig ein Verständnis der Schnittstellen zwischen Familiengesetzgebung und lokalen Familienpraxen ist.

Die Diskussion zu beiden Vorträgen (Kommentar: CAMEL SHALEV (University of Tel Aviv)) verstärkte den Befund, dass es sich hier um ein bedeutsames Forschungsdesiderat handele. Die EU-Gewebe-Richtlinie, die unter anderem auch die Anonymitätspraxen im Falle von Spendersamen neu regelt, müsse in dieser Perspektive als Teil der Verwandtschaftsgesetzgebung gelesen werden, denn es handele sich um eine Gesetzgebung, die Verbindungen legitimiert, bildet, festigt oder trennt.

BERNHARD HADOLT (IHS Wien) und VIOLA HÖRBST (Institut für Ethnologie, LMU München) erkundeten in ihrem Beitrag Möglichkeiten und Grenzen eines kontrastiven Vergleiches von In-Vitro-Fertilisation in Mali und Österreich. Die von ihnen gewählte Vergleichseinheit "Praxisform" bezeichnete dabei lokal spezifische, sozial geteilte Bündel von Praxen, die aus der Interaktion lokaler Problemdefinitionen von Kinderlosigkeit, nationalen Regulationsformen und transnational operierenden Gesundheitsorganisationen hervorgehen. HADOLT und HÖRBST arbeiteten vor allem Unterschiede im jeweils lokalen Verständnis von ungewollter Kinderlosigkeit heraus und zeigten, wie die kostspieligen und unsicheren Technologien vor allem im Mali-Fall soziale Techniken des Umgangs mit Kinderlosigkeit (z.B. Polygynie) ergänzen. In beiden untersuchten Kontexten, so ein Ergebnis ihrer Überlegungen, ändere sich die Definition dessen, was traditionell als Problem ungewollter Kinderlosigkeit verstanden werde, durch die (eingeschränkte) Verfügbarkeit von Reproduktionstechnologien nicht.

ZEYNEP GÜRTIN-BROADBENT (University of Cambridge) berichtete aus ihrer Forschung in einer privaten, reproduktionsmedizinischen Klinik in Ankara zu "Lokalisierungspraxen" von Reproduktionstechnologien in der Türkei. IVF und ICSI würden dort mittlerweile als normale, moderne und auch normativ geforderte Antwort auf Infertilität und ungewollte Kinderlosigkeit gelten. Die hohe soziale Akzeptanz von "Tüb Bebek" (Reagenzglas-Kindern) basiere auf dem Verbot jedweder Form donogener Insemination, auf der Einschränkung der Anwendbarkeit von IVF auf verheiratete heterosexuelle Paare und auf einem ausgeprägten Stolz über die Erfolge türkischer Ärzte.

In ihrem Kommentar zu den Beiträgen dieses Panels forderte FERHUNDE ÖZBAY (Boğaziçi-Universität Istanbul), die Perspektive auf Bevölkerungspolitik und ihre Umschwünge, gerade in der Türkei, noch zu erweitern und die Zusammenhänge zwischen Redefinitionen und Vorstellungen von Moderne, citizenship und Fortschritt in der Nutzung von IVF-Technologien ethnographisch intensiv zu erkunden.


Transnationale Räume der Reproduktionstechnologien

Der dritte Workshoptag war schwerpunktmäßig den transnationalen Aspekten unterschiedlicher Forschungen zu assistierenden reproduktiven Technologien weltweit gewidmet. Das Samstagmorgen-Panel stand unter dem Motto Tracing the Transnational Scapes of Reproductive Technologies: Emergent Forms and Domains of Regulation.

SVEN BERGMANN (Humboldt-Universität zu Berlin) berichtete über seine Forschungen zu “Fertilitäts-Tourismus” in reproduktionsmedizinischen Kliniken in Spanien und der Tschechischen Republik. Er zeichnete am Beispiel des Eizellhandels unterschiedliche Facetten der hier entstehenden repro-scapes nach. Um die Form und die Prozessdynamiken dieser "scapes" (Arjun Appadurai) ethnographisch zu entschlüsseln, untersuchte BERGMANN vor allem Interaktionen und Begegnungsformen in transnationalen Räumen: Matching-Strategien (zwischen Eizellspenderinnen und -empfängerinnen), Synchronisierungspraxen sowie die Herstellung und Sicherung von Angeboten und Verfügbarkeiten in ihren räumlichen und zeitlichen Dimensionen. BERGMANN machte deutlich, dass die Wege der reisenden Patientinnen, der Gameten und Hormonpräparate und die Räume der Kliniken, in denen sich medizinisches Wissen, Kapital, körperliche Substanzen sowie die Spenderinnen und Empfängerinnen von Eizellen begegnen, Teil einer entstehenden, stark stratifizierten transnationalen Landschaft sind.

Auch EVA-MARIA KNOLL (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) widmete sich der Ostwärtsverlagerung von Reproduktionstechnologien und einer spezifischen Spielart von "Reproduktionstourismus". Die von ihr ethnographierte Repro-Tech-Mobilität von Österreich nach Ungarn folgt klassischen Mustern und etablierten Infrastrukturen der Tourismusindustrie. KNOLL zeigte überzeugend, dass Grenzen in transnationalen Räumen keineswegs ihre Bedeutung verlieren, sondern neue Bedeutungen erlangen – beispielsweise, wenn die Verfügbarkeit von IVF für bestimmte (nationale) Bevölkerungsgruppen erweitert oder beschränkt wird. Dabei produzieren die Unterregulation und die Unübersichtlichkeit transnationaler repro-scapes Spielräume und "Biegbarkeiten", die den drei untersuchten ungarischen IVF-Kliniken sehr unterschiedliche, zum Teil sogar antagonistische, Politiken und Praxen erlauben.

In ihrem Kommentar im Anschluss an diese Präsentationen unterstrich SHAHANAH SCHMID (BIOS Centre, LSE London) die Notwendigkeit neuer analytischer, vielleicht auch kartographischer, Zugänge, die über die Kritik eines methodologischen Nationalismus (Nina Glick-Schiller) und die simple Aufforderung zu mehr mobiler, multilokaler Feldforschung hinausgehen. Die Vorträge machten klar, dass politische Räume und Grenzen, die Territorien des Marktes und die Räume der Imagination in Bezug auf IVF als transnationale oder globale Form keineswegs deckungsgleich seien. Die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Gouvernance-Formen und Marktlogiken jedoch müssten noch genauer erforscht werden.

Das zweite Samstagspanel setzte die Diskussion zu den Strukturen transnationaler reproduktiver Räume fort. Der thematische Schwerpunkt lag nun auf "Accelerated and Restricted Agencies and Asymmetrical Engagements". Die Medizin- und Sozialanthropologin MARCIA INHORN (University of Michigan) stellte ein komplex stratifiziertes Reproduktionsregime in Dubai vor. Dubai werde von Nutzerinnen und Nutzern reproduktiver Technologien aus all den Ländern besucht, die vor allem nach 2001 kaum noch Zugang zu US-amerikanischen Visa erhalten. Außerdem liegen die Fertilitäts-Kliniken in Dubai für Eliten arabischer und afrikanischer Länder näher als amerikanische oder europäische Kliniken. An dem exemplarischen Fall einer Frau, die in Dubai durch eine Eizellspende aus Zypern mit Mehrlingen schwanger wird und zwei der drei Föten in England, wo dies im Gegensatz zu Dubai erlaubt ist, abtreiben lässt, arbeitete Marcia Inhorn eine Art Konsum von Rechten (ermöglicht durch finanzielle Ressourcen) heraus. Sie schlug vor, die Analyse reproduktionstechnologisch assistierter Lebensformen nicht auf Kliniken und Labore zu beschränken, sondern auch die häuslichen Arbeitsteilungen und die Gesamtorganisation von Eltern-Kindverhältnissen mit einzubeziehen. Nur so lasse sich das gesamte Interdependenzgeflecht überblicken, zu dem auch die Kindermädchen der wohlhabenden (einheimischen wie internationalen) Dubaier Familien und ihre Kinder und Familien als spezifisch "Andere" einer globalen Eltern- und Mutterschaft gehörten.

ADITYA BHARADWAJ (University of Edinburgh) argumentierte in seinem Konferenzbeitrag, dass das Konzept der stratifizierten Reproduktion (nach Shellee Colen 1995) die Implikationen eines in Indien stark ausgeprägten Pronatalismus und seine gleichmacherischen Wirkungen nicht genügend berücksichtige. Wo Kinder-Haben eine soziale Notwendigkeit sei, würden reiche und arme gleichermaßen stigmatisiert und Kategorien wie Schicht, Religion, Ethinizität und Kaste durchkreuzt. Diese wiederum spielten jedoch eine große Rolle im ungleichen Zugang zu sozialen wie technologisch assistierten Umgangsmöglichkeiten mit Unfruchtbarkeit und ungewollter Kinderlosigkeit. In seinem Vortrag erprobte BHARADWAJ die Produktivität des Haraway'schen Begriffes "Diffracting" für komplexe Reproduktionsregimes, um "Interferenzmuster" zwischen Reproduktionstechnologien und Traditionen, Mythen sowie neoliberale Formen der Funktionalisierung von Frauenkörpern im Kontext von Sexualität, Kontrolle und Reproduktion zu analysieren.

SHALINI RANDERIA (Institut für Ethnologie, Universität Zürich) unterstrich in ihrem Kommentar die Rolle von scheinbar schwachen Staaten, die in ihren bevölkerungspolitischen Absichten oft besser als "cunning states", listige Staaten zu verstehen seien. In Indien wie anderswo gehe es immer auch um die Frage, welche Kinder beziehungsweise Familien reproduziert werden sollten. Darüber hinaus regte sie an, die Überlegungen zur Emergenz von IVF als globaler Form noch stärker auch auf die Umbrüche und Konjunkturen globaler Bevölkerungspolitiken zu beziehen.

Das letzte Panel des zweiten Workshoptages stand unter dem Motto "Tracing Transnational Scapes of Reproductive Technologies III: Bureaucracies, Ethics and Knowledge". BOB SIMPSON (Sozialanthropologie, Durham University) untersuchte internationale Kollaborationsformen und lokale Strategien zur bioethischen Regulation von Reproduktionstechnologien im von politischen Konflikten zerrissenen Sri Lanka. Aus der Perspektive sri-lankanischer Bioethiker rekonstruierte er die Anstrengungen, in einem von politischen und kulturellen Abhängigkeiten und Ungleichheiten beherrschten Feld eine "national angemessene“ Regulation von Reproduktionstechnologien auszubilden. Die globale Assemblage IVF ist nach Simpson ein reichhaltiges Mosaik von institutionellen Formen und klinischen Praxen, das sich aus dem fortgesetzten Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, Hierarchie und Autonomie entwickelt.

STEFAN BECK (Humboldt-Universität) fragte in seinem Schlussvortrag, wie unterschiedliche Akteure Erfahrungswissen im Kontext transnationaler medizinischer Handlungsräume mobilisieren. Am Beispiel einer türkischen Selbsthilfegruppe für ungewollt Kinderlose, einer zypriotischen Patientenorganisation und spezifischen Formen des "knowledge-fanchising" zwischen US-amerikanischen und türkischen Kliniken rekonstruierte er reflexive Praxen, die den transnationalen Raum der Reproduktionstechnologien und einen neuen "body cosmo-politic" generieren. Beck experimentierte in seinen Beschreibungen und Deutungen transnationaler Praxen und Verbindungen mit den Metaphern des "Wurmsloches", des "Hyperspaces" sowie mit dem Begriff der "gegenstrebigen Fügung". Ziel müsse es sein, transnationale Prozesse nicht mehr im Vergleich oder analog zu Staatenbildungsprozessen und staatlichen Ordnungsmodellen zu untersuchen, sondern ein eigenständiges Vokabular zu ihrer Analyse zu entwickeln. Insofern seien die transnationalen Räume der Reproduktionstechnologien Versuchsanordnungen zur Rekonstruktion spätmoderner Topologien.

MICHAEL SCHILLMEIER (Institut für Soziologie, LMU München) ergänzte diese Beiträge durch einen luziden Kommentar, der unter anderem disziplinäre Stile des Umgangs mit Begriffen und ethnographischer Empirie in Soziologie und Ethnologie verglich und damit nochmals den Bogen zur Eingangsfrage über die Spezifik ethnographischer Wissensproduktion im transnationalen Raum von IVF neu spannte.

Jenseits einer simplen Demonstration von Variantenvielfalt etablierten die ethnographischen Beiträge und die Berichte über multilokale Forschungen in transnationalen Räumen neue Fragestellungen und rückten Dimensionen von In-Vitro-Fertilisation ins Licht die sonst oft übersehen werden. Das betraf vor allem Fragen von Ungleichheit und Macht, aber auch eine generelle Ausweitung der Perspektive aus der empirischen Erfahrung heraus. In der Weitwinkel-Optik der Ethnographie wurden auch Adoption, Abtreibung, Bevölkerungspolitik, Geschlechterordnungen, tradierte Herrschaftsverhältnisse, die rechtliche Situation und ökonomische Bedingungen als bedeutungsvolle Kontexte neuer Reproduktionstechnologien erschlossen. Neue Facetten der In-Vitro-Technologien traten auch dort ans Licht, wo die ethnographische Perspektive mit Fragestellungen nach historischen Genealogien ergänzt wurde. Als globale Form und transnationales scape bilden Reproduktions-Technologien ein produktives Modell, an dem beispielhaft auch methodische und theoretische Anliegen in der Erforschung transnationaler Strukturen weiterentwickelt werden können.

Die Publikation der Konferenzbeiträge ist als englischsprachiger Sammelband im Campusverlag Frankfurt/Main in Kooperation mit der Chicago University Press geplant.


Konferenzübersicht:

Donnerstag, 12. Juni 2008

18:15 Reception and Addresses
Public Keynote Lecture: Sarah Franklin (BIOS-Centre, LSE London)
5 Million Miracle Babies Later: The Cultural Legacy of IVF

Freitag, 13. Juni 2008

09:00-9:30 Introduction to the Subject: Michi Knecht (Humboldt University Berlin)
Ethnographic Knowledge and the Globalization of Reproductive Technologies: Reinvigorating Theory

09:30-11:00 Localizing IVF I: The Cultural Works of Encounters
Michal Nahman (University of Western England, Bristol)
"Embryos are Our Baby": Condensing the Body in Israely Ova Donation

Elizabeth Roberts (University of Michigan)
Institutions that Matter: IVF, Abortion and Reproductive Governance in Ecuador

Discussant: Jeanette Edwards (University of Manchester)
Chair: Stefan Beck (Humboldt University Berlin)


11:30-13:00 Localizing IVF II: National Styles of Governance / Local IVF Cultures

Willemijn de Jong (Zurich University)
The Bad "Child as a Project". Contested Knowledge Practices about IVF in Switzerland

Maren Klotz (Humboldt University Berlin)
Kinship Knowledge‚Management' during Assisted Conception: Reflections on Potential ‚Crosstalk' between Regulation and Local Familial Practices in Germany and the UK

Discussant: Carmel Shalev (University of Tel Aviv)
Chair: Michi Knecht (Humboldt University Berlin)

15:00-17.00 Localizing IVF III: National Styles of Governance/ Local IVF Cultures

Zeynep Gürtin-Broadbent (University of Cambridge)
"Modern Technologies": Infertility, IVF, and the Donor Sperm Taboo in Turkey

Viola Hörbst (LMU München) & Bernhard Hadolt (Institute for Advanced Studies, Vienna)
ART-Practices in Comparative Perspective: Case Studies from Austria and Mali

Discussant: Ferhunde Özbay (Boğaziçi-University Istanbul)
Chair: Sulamith Hamra (Humboldt University Berlin)

18:00-19:00 Open Floor: “Ethnographic Knowledge, the National and the Transnational Regulation of IVF” with statements by Carmel Shalev (University of Tel Aviv), Rajani Bhatia (University of Maryland), Sven Bergmann (Humboldt University Berlin)

Samstag, 14. Juni 2008

9:30-11:00 Tracing the Transnational Scapes of Reproductive Technologies I:
Emergent Forms and Domains of Regulation

Sven Bergmann (Humboldt University Berlin)
The Spatial fix of European Reproduction – Between Forms of Regulation and Practices of Circumvention

Eva-Maria Knoll (AAS, Vienna)
Reproducing Hungarians – Reflections on Fuzzy Boundaries in Reproductive Tourism

Discussant: Shahanah Schmid (BIOS-Centre, LSE London/Zürich)
Chair: Christine Bischof (Humboldt University Berlin)


11:30-13:00 Tracing the Transnational Scapes of Reproductive Technologies II: Accelerated and Restricted Agencies, Asymmetrical Engagements

Marcia Inhorn (University of Michigan)
"Assisted" Motherhood in Global Dubai: Reproductive Tourists and their Nannies

Aditya Bharadwaj (University of Edinburgh)
Diffracting Reproduction: Infertility Encounters, Stratified Reproduction, Surrogacy and New Reproductive Technologies in India

Discussant: Shalini Randeria (Zurich University)
Chair: Babette Müller-Rockstroh (MPI Halle)

14:30-16:00 Tracing the Transnational Scapes of Reproductive Technologies III: Bureaucracies, Ethics and Knowledge

Bob Simpson (Durham University)
Transnationality and Locality in the Regulation of Reproductive Technologies: Holding the "Helping Hand" in Contemporary Sri Lanka

Stefan Beck (Humboldt University Berlin)
Transnational Lab-Benches: Transforming Experience

Discussant: Michael Schillmeier (LMU Munich)
Chair: Tanja Bogusz (Humboldt University Berlin)

16:30-17:00 Final Discussion and Résumé


Literatur:
Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Carsten, Jeanette (2007): Constitutive Knowledge. Tracing Trajectories of Information in New Contexts of Relatedness. In: Anthrop. Quarterly, Bd. 80 (29), S. 403-426.

Colen, Shellee (1995): "Like a Mother to Them". Stratified Reproduction and West Indian Childcare Workers and Employes in New York. In: Fay D. Ginsburg / Rayna Rapp (Hg.): Conceiving the New World Order. The Global Politics of Reproduction. Berkeley u.a., S. 78-102.

Franklin, Sarah (1997). Embodied Progress. A Cultural Account of Assistant Conception. London und New York: Routledge.

Franklin, Sarah (2007). Dolly Mixtures. The Remaking of Genealogy. Durham und London 2007.

Strathern, Marilyn (2005): Kinship, Law, and the Unexptected. Relatives Are Always a Surprise. Cambridge University Press.

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