"Jede Wissenschaft würde unter einem Anfangsverdacht stehen"

Peter Nowak interviewte in Telepolis (09.08.2007) den Soziologen Rainer Rilling über die Verhaftung des Berliner Stadtsoziologen Andrej. H.

Die Proteste gegen die Verhaftung des Berliner Stadtsoziologen Andrej H. und drei weiteren Personen reißen nicht ab. Neben sozialpolitischen Organisationen und Publikationen wie dem Mieterecho und dem Berliner Sozialforum haben sich vor allem Wissenschaftlerorganisationen kritisch geäußert. Dazu gehören der Stipendiatenrat der Rosa-Luxemburg Stiftung und der Wissenschaftliche Beitrat von Attac. Prof. Rainer Rilling lehrt Soziologie an der Universität Marburg und ist wissenschaftlicher Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat


Warum hat sich der Wissenschaftliche Beirat von Attac in einer Presseerklärung gegen die Verhaftung des Berliner Sozialwissenschafters Andrej H. gewandt?

Rainer Rilling: Es sind vor allem die Begründungen der Bundesanwaltschaft, mit der sie den Verdacht der Mitgliedschaft in der militanten Gruppe bei Andrej H. belegen will, die in Wissenschaftlerkreisen für Empörung sorgten und weiterhin sorgen.

Welche Begründung meinen Sie?

Rainer Rilling: Zur gesamten Anklageschrift kann sie ich mich als Nichtjurist nicht äußern. Auch ist nicht ganz klar, welche Vorwürfe welchen Festgenommenen im Einzelnen gemacht werden. Ich beziehe mich auf die Stellen, in denen als Verdachtsmoment gegen Andrej H. bzw. der anderen Beschuldigten eine im Jahr 1998 veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung angeführt wird, die Begriffe enthalten soll, die auch in den Texten der Militanten Gruppe verwendet worden sein sollen. Außerdem heißt es dort, dass ein Beschuldigter als promovierter Politologe und Promotionsstipendiat intellektuell in der Lage sei, die anspruchsvollen Texte der Militanten Gruppe zu verfassen. Des Weiteren ist er verdächtig, weil ihm "als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung stehen, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der Texte der Militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen".

Welche Folgen befürchten Sie, wenn die Anklagebehörde mit diesen Beschuldigungen Erfolg hätte?

Rainer Rilling: Dann würde jede Wissenschaft unter einem Anfangsverdacht stehen, militanten Aktivitäten zuzuarbeiten. Dann würden es sich Wissenschafter überlegen, ob sie bestimmte Begriffe wie beispielsweise Gentrifikation für eine Umstrukturierung eines Stadtteils noch weiter verwenden. Dieser Begriff, der den niederen englischen Adel bezeichnete und zur Kennzeichnung der Aufwertung von Stadtteilen in die internationale Wissenschaftssprache Einzug gefunden hat, würde dann unter Verdacht stehen. Es gab im Beirat von Attac Kollegen, die wegen der offensichtlichen Lächerlichkeit der Vorwürfe dazu rieten, sich gar nicht damit zu beschäftigen. Doch die Mehrheit war der Meinung, dass man die Vorwürfe nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.

Gab es nicht auch in der Vergangenheit schon Verfahren gegen kritische Wissenschafter, die sich mit so genannten anschlagsrelevanten Themen befassten? Ich denke da beispielsweise an die Ermittlungen 1987 gegen Frauen, die sich mit Bevölkerungspolitik befassten und die beschuldigt waren, der Organisation 'Rote Zora' zugearbeitet zu haben,

Rainer Rilling: Es gab sicher auch in der Vergangenheit immer wieder Ermittlungen gegen kritische Wissenschaftler. Die Verhaftung von Ingrid Strobl war nur ein bekanntes Beispiel. Doch damals haben die Ermittlungsverfahren als Begründung ein linkes oder materialistisches Vokabular bei den Beschuldigten angeführt. Im Verfahren gegen Andrej H. wird aber die Verwendung der gängigen Wissenschaftssprache herangezogen. Ein in Wissenschafterkreisen völlig normales Verhalten wird so unter Terrorverdacht gestellt. Das fördert natürlich die Befürchtung, dass damit jede wissenschaftliche Tätigkeit betroffen sein kann.

Welche weiteren Proteste aus Wissenschafterkreisen sind noch geplant?

Rainer Rilling: Zunächst geht es darum, den Fall weiter bekannt zu machen. Im Inland haben sich zahlreiche Organisationen auch aus dem Wissenschaftsbereich zur Verhaftung von Andrej H. geäußert. Weitere werden folgen. Über Mailinglisten wird auch im internationalen Rahmen über die Festnahmen und die Begründung informiert. Vor allem unter Sozialwissenschaftern, Soziologen und kritischen Geographen hat der Fall für Aufmerksamkeit gesorgt

Besteht nicht die Gefahr, dass durch die große Konzentration auf den Wissenschaftsbereich die anderen Festgenommenen, die keine Wissenschafter sind, vergessen werden?

Rainer Rilling: Zunächst ist verständlich, dass Organisationen wie der Wissenschaftliche Beirat von Attac in erster Linie die Begründungen, welche die Wissenschaft betreffen, zum Gegenstand ihrer Kritik machen. Aber die bisherigen Reaktionen auf die Festnahmen zeigen mir, dass es die Trennung in der Solidaritätsbewegung insgesamt nicht gibt. So wurde bei der Demonstration anlässlich der Attac-Sommerakademie in Fulda das Konstrukt insgesamt kritisiert und die Abschaffung des §129a gefordert. Der Druck für diese Forderung muss wachsen.

Dazu wäre ein Bündnis wünschenswert, das die rasante Entwicklung zum aktiv handelnden Sicherheitsstaat insgesamt thematisiert. Davon sind aktuell auch die Journalisten betroffen, gegen die jetzt wegen ihres Zitierens aus Berichten des parlamentarischen Untersuchungsausschuss ermittelt wird. Und noch eine persönliche Bemerkung: Ich kenne Andrej H. persönlich aus gemeinsamer Arbeit in einem Informationsnetz zur Politik der Privatisierung, entsprechenden Webprojekten und internationalen Forschungsprojekten. In einem Seminar, das ich organisiere und das nächste Woche stattfinden wird, war er gleich mehrfach als Referent zu stadtsoziologischen und raumtheoretischen Fragen vorgesehen. Seine politischen und wissenschaftlichen Schriften, die ich zu einem guten Teil kenne, rufen weder zur Gewalt gegen Sachen - als kritischer Stadtsoziologe dürfte man solche Neigungen im Minutentakt spüren - noch zur Gewalt gegen Personen, erst recht nicht zu terroristischer Gewalt auf oder rechtfertigen sie. Das Ganze stinkt zum Himmel.

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