Der lange Arm des 'Real Life' - Über den prognistischen Wert Kulturwissenschaftlicher Technikforschung

Christoph Neubergers Projektgruppe zu StudiVZ-Studie hat u.a. einen Befund bestätigt, der bereits vor zehn Jahren in der Kulturwissenschaftliche Technik- bzw. Internetforschung erhoben bzw. als Merkmal der Internetdiffusion angesehen wurde (s.u.):

"Manche befürchteten, in Zeiten von Online-Communities könnte der Nachmittagskaffee mit Freunden ausgedient haben und sich stattdessen jeder zu Hause vorm Computer in der StudiVZ-Welt vergnügen.

Die Ergebnisse der Projektgruppe widerlegen solche Befürchtungen: Nach wie vor bevorzugen Studierende bei engen Freunden den persönlichen Kontakt. Pinnwandeinträge oder Nachrichten im StudiVZ rangieren bei ihnen nach Treffen, SMS, Telefon oder E-Mail erst an fünfter Stelle. Verdrängungseffekte hat es durch die Community allenfalls in der elektronischen Kommunikation gegeben: Die befragten Nutzer geben an, durch das StudiVZ weniger E-Mails oder SMS zu schreiben.

Im StudiVZ pflegen Nutzer vor allem entfernte Kontakte, etwa zu alten Schulfreunden. "Hier hat das Netzwerk teilweise zu häufigeren Kontakten beigetragen", so Prof. Neuberger. Neue Kontakte ergeben sich durch die Plattform kaum: Rund zwei Drittel der Befragten geben an, keine neuen Kontakten via StudiVZ geknüpft zu haben. Demgegenüber stehen gerade einmal fünf Prozent, die viele oder gar sehr viele neue Leute über das Netzwerk kennen gelernt haben."


Immer wieder umstritten ist die Prognosefähigkeit der Sozial- und Kulturwissenschaften. Ein gutes Beispiel für eine solche Aussage über zuukünftige Entwicklung im Kontext von Medieninnovationen ist die Frage nach der Diffusion des Internet und auch nach den zu erwartenden Nutzungspraktiken. In diesem Zusammenhang sei nochmals an die Ergebnisse des Tübinger DFG-Projekts "Zur Transformation der Alltagsbeziehungen von InternetnutzerInnen (1998-2000) erinnert. Dieselben stammen aus heutiger Sicht noch aus der "Vorgeschichte" des Internet, wenngleich soviel sich auch nicht so viel geändert hat, wie Begriffe à la "Web 2.0" oder "Social Software" behaupten.

Das Internet galt insbesondere zu Beginn Mitte der 90er Jahre (und gilt bis heute) als jenes Symbol der Globalisierung, ohne dass man einfach nicht mehr mithalten und mitreden könne. Es wurden weitreichende Behauptungen aufgestellt, in welcher Weise sich lokale soziale Bezüge erübrigen und an Bedeutung verlieren würden.

Dabei hätte man auch schon damals aus der Geschichte des Telefons wissen können, dass auch das Telefon vor allem dazu dient(e), lokale Bezüge und den sozialen Nahraum zu unterstützen. Aus der Beschleunigung der technologischen Entwicklung wurde aber unisono auch eine entsprechende Dynamik für soziale Praxen und ihre soziokulturellen Praktiken abgeleitet. Und eine der Charakteristka von "Wissensgesellschaft" liegt offenbar darin, gesichertes Wissen und bereits historisch gemachte Erfahrungen für obsolet zu erklären und immer neuen Hypes hinterherzulaufen. Insofern ist das Münsteraner Ergebnis gar nicht so erstaunlich, wie die Presserklärung der Universität der ForscherInnen nahelegt.

Denn bereits für die Frühzeit des Internet gibt es Untersuchungen jenseits der Medienwissenschaften, die den nun herausgefundenen Zusammenhang festgehalten haben:

"Im oder besser mit dem Netz wird dasselbe Leben geführt wir im ‚real life‘; IuN dienen dazu, bestehende soziale Netzwerke zu intensivieren.
(...)
Deshalb ist Hoffnungen auf neue Menschen („netizens“) oder
Beziehungen („virtual communities“) der Befund entgegenzuhalten, daß im Hinblick auf die Nutzung von IuN und dem Aufbau neuer und andersartiger Kontakte als im ‚real life‘ weitgehende Fehlanzeige zu verzeichnen ist.
(...)
Die Aneignung und Nutzung von IuN erfolgt im Kontext bestehender sozialer Beziehungen und Praxen. IuN dienen in erster Linie der Organisation des ‚real life, zur Pflege sozialer Beziehungen im Nahbereich sowie von schon bestehenden Bekanntschaften, Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen.
(...)
Virtuelle Re-Integration
IuN ermöglichen die Stabilisierung, Wiederbelebung, Erweiterung und Aufrechterhaltung von Beziehungen in durch räumliche Trennung bedrohten sozialen Netzwerken.
• Stabilisierung und Wiederbelebung:
Es zeigt sich, daß insbesondere in den Untersuchungsgruppen
mit hoher beruflicher Mobilität der Wegzug oder die räumlich weite Entfernung von Freunden wichtige Einstiegsgründe sein können. Auf die räumliche Trennung wird mit einer virtuellen Re-Integration geantwortet. Soziokulturelle Normen, die es in bestimmten sozialen Netzwerken selbstverständlich machen, eine Email-Adresse zu besitzen, und objektive berufliche Gegebenheiten ergeben ein Gemengelage von Nutzungsweisen und Nutzungsgründen.
Wir unterscheiden dabei „Weihnachtskartenbeziehungen“ von wiederbelebten Beziehungen. Letztere entstehen nur wieder, weil
es IuN ermöglicht."


Damaliges Fazit:
"Der lange Arm des ‚real life‘ wirkt auch in der Netzkommunikation fort."

Quelle: Schönberger, Klaus: Internet und Netzkommunikation im sozialen Nahbereich. Anmerkungen zum langen Arm des ›real life‹. In: forum medienethik 2/2000: Netzwelten, Menschenwelten, Lebenswelten. Kommunikationskultur im Zeichen von Multimedia, S. 33-42. Online verfügbar unter: http://www.fatk.uni-tuebingen.de/files/ethik.pdf

Eine weitere Studie über ein anderes Netzwerk des sogenannten Web 2.0, Xing, kommt zu einem ähnlichem Ergebnis wie die Münsteraner Studie:
Renz, Florian: Praktiken des Social Networking: Eine kommunikations­soziologische Studie zum online-basierten Netzwerken am Beispiel von openBC (XING). Boizenburg. 2007.

Vgl. die Rezension der Arbeit von Thies W. Böttcher bei kommunikation@gesellschaft:

"Ein herauszuhebendes Ergebnis ist, dass Nutzer vorherrschend (hypothetisch, denn eine klarere Aussage lässt die Datenmenge nicht zu) eine Mischung aus privaten und geschäftlichen Kontakten, die schon vor der Nutzung von openBC Bestand hatten, pflegen (im „Ausblick“ des Buches wird der Mangel an neu generierten Kontakten durch die quantitative Studie eines Marktforschungsunternehmens gestützt). Dies widerspricht der „Idealvorstellung“ der Seitenbetreiber, dass in großem Maß neue Geschäftskontakte über die Plattform geknüpft werden (S. 93). Das Hauptmotiv, das einer der befragten Nutzer äußerte, nämlich „mit Leuten in Kontakt zu bleiben“ (S. 91), könnte sich in einer quantitativen Studie bewähren."

Es ist dieser Blick auf die historische Entwicklung, die den Vorzug von Kulturwissenschaftlicher Technikforschung gegenüber anderen mit dem Internet beschäftigten Disziplinen auszeichnet.

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